Warum fragt man Menschen ab einem bestimmten Alter nicht mehr, was sie werden wollen? Weil sie schon sind, könnte die Antwort sein. Das liest sich so falsch, wie sich 16 Grad im Februar anfühlen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal nach der Wunschkreation meines Zukunfts-Ichs gefragt wurde. Ich werde nach meinem Studiengang gefragt. Meistens wird die Nase gerümpft oder pseudo-Interesse vorgetäuscht und wissend genickt. Publizistik, aha. Das Studium: eine berufliche Richtungsverpflichtung, eine deterministische Lebensleiter. Eine Falltür? Medizin, Chirurgie oder Kinderärztin? Lehramt, Grundschule oder Gymnasium? Ökotrophologie. Ah, das mit Essen, ne? Die Gesellschaft ist bunter, als es Studiengangsnamen oder -verlaufspläne, Modulangebote oder Regelstudienzeiten sind. „Und was macht man damit später?“ Fragt Sabine, fragt Jens, fragt Eva, fragt Petra. Ich zucke nicht mehr mit den Schultern, darum bemüht, meine Unsicherheit mit Gleichgültigkeit zu tarnen. Ich sage auch nicht mehr verschmitzt „Alles“, weil das einfach falsch ist, oder „Taxi-Fahrerin“, weil ich versuche witzig zu sein. „Wer ist Mann und wann ist später?“ frage ich. Was? Was?
Sag mir was du studierst und ich sag dir wer du bist
Heute ist das später von gestern, von vor zwei Monaten, von vor fünf Jahren. Glaubt man meinen Freundebüchern müssten viel weniger Anzugträger*innen herumlaufen, und gar keine arbeitslosen Menschen. Viel mehr Feuerwehrmänner und Polizistinnen, Schornsteinfeger und Baggerfahrerinnen, kleine Prinzen und Piratenfrauen, Cowboys und Indianer. Mein 8jähriges Pocahontas-Ich fragt sich, warum sie nie gelernt hat Bogenzuschießen. Es ist nicht romantisch, sondern verklärt zu glauben, dass jede*r sein kann, was sie oder er will. Sein ist keine aktive Entscheidung, sondern ein Prozess, in glücklichen Fällen teilweise selbstbestimmt. Unsere Strukturen tolerieren Hexen und Clowns nur zu bestimmten Zeiten im Jahr und nur mit viel Alkohol. Es ist nicht lächerlich, sich zu verkleiden, solange jede*r weiß, dass es eine Verkleidung ist. Wir heben uns ab, werfen einen Blick über den Rand unserer homogenen Blase, nur einen Blick und nur einen Moment. Und nur äußerlich. Am Aschermittwoch wird der Anzug wieder ausgepackt, bevor er innerlich abgeworfen werden konnte, die Verkleidungskiste verstaubt auf dem PAX-Regal. Pocahontas hat ein Vorstellungsgespräch.
Heute ist später, denke ich und erkläre meinem Tinder-Date, dass ich ’irgendetwas mit Medien‘ mache. Ich stecke jetzt in der Medien-Schublade, ich habe mich selbst hineingesteckt, in die kreative Schublade, die nicht mehr kreativ sein kann, weil es eine Schublade ist. Sag mir was du studierst und ich sage dir wer du bist. Mein Date lächelt. Die Medien-Flut hat sich selbst zu einer Mainstream-Welle degradiert und mündet in das Hipster-Meer. Gentrifizierte Stadtbezirke teilen sich Surfbretter mit Latte-Macchiato-Mums. Und mit uns. Wir merken nicht, dass wir Standup-Paddeln, obwohl wir alle zum Surfen hergekommen sind. Pocahontas kann nicht schwimmen, aber das interessiert niemanden mehr, am wenigsten sie selbst.
Und wo ist dein inneres Kind begraben?
Ich könnte schreiben, dass die Gesellschaft uns die Vorstellung nimmt, alles sein zu können. Das ist arrogant und falsch. Wir sind Teil dieser Gesellschaft, auch wenn wir uns so gerne abheben. Wir sind Teil der Prozesse, die wir ablehnen, wir unterstützen Strukturen, ohne etwas zu tun, oder gerade deshalb. Wir, nicht sie (wer ist überhaupt sie? Die Gesellschaft?), nehmen uns die Vorstellung, alles sein zu können. Unser Außen mag uns tatkräftig unterstützen, bietet uns einen Anzug an, ist ein Anzug, verehrt den Anzug, reißt Pocahontas ihren bunten Kopfschmuck aber nicht herunter. Sie macht das selbst, macht es ihrem Umfeld nach, weil es anstrengend ist auszuhalten, Indianerin zu sein, wenn um den Totempfahl niemand mehr tanzt. So viele Menschen, so wenig Orientierung.
Heute ist später. Plötzlich neigt sich unser Studium dem Ende zu, plötzlich ist der 30. Geburtsag näher, als der 18., plötzlich gratulieren wir zu Schwangerschaften, plötzlich werden unsere Großeltern dement, unsere kleinen Geschwister erwachsen, unsere Freunde Väter. Es wird Sommer und Herbst und wieder Sommer. Heute ist später. Und morgen das ‚viel später‘, von dem wir immer dachten, es würde niemals kommen. Der unendliche Winter, den man im Frühsommer vergisst, wenn die warmen Sonnenstrahlen die Haut weich werden lassen. Wir hören Petra nach später fragen. Und Sabine und Jens und Eva. Sie fragen seit immer, weil sie in ihrem gestern gefangen sind. Und ihren Gedanken. Unser Möglichkeitenreichtum beschränkt sich auf die Schublade, in der wir stecken, sagt Petra. Pocahontas weint. Der Traum von der Feuerwehrfrau träumt sich aus, weil das Kind ins uns lieber Netflix schaut oder Bewerbungen schreibt, als mit einem roten Helm durch die Wohnung zu laufen. Während das Kind noch Heldentum spüren kann, weil es sich vorstellt, eine Heldin zu sein, bekommen wir Falten, bekommen wir Gastritis, bekommen wir Migräne. Damals wird das Mantra von morgen, Petra redet über die Jugend wie über einen Urlaub, den sie nie gemacht hat. Phantastischer Zukunftsmut und phantasievolle Vorstellungskraft wurden von sorgenvoller Versicherheitlichung und Termindruck abgelöst. Das Kind in uns wird in einen Anzug gezwängt. Pocahontas stirbt.
Für Oma
In ihrer letzten Mail schrieb meine Omi, dass sie meinen Gedanken oft nicht mehr folgen kann. ‚Ihr jungen Leute habt so viel im Kopf‘. Liebe Oma, ich verstehe meine Gedanken oft selbst nicht und zum Glück genieße ich die Freiheit, sie herauslassen zu können, wie sie hereingekommen sind. Ich höre oft, dass sich meine Texte komplex lesen. Ich versuche daran zu arbeiten. Es fällt mir schwer, weil ich komplex bin und nur im Schreiben das Gefühl der kompletten Entfaltung habe. Omi, wenn du meine Texte nicht komplett verstehst, dann verstehst du mich schon mehr, als die meisten anderen.
Ein Ozean wirrer Gedanken, eine Insel, ein Gedankenpalast
Ich habe das Gefühl, dass dieser Text sich unvollständig liest und irgendwie unfertig ist. Er fühlt sich mehr wie eine kreative Keimzelle an, weniger wie ein intelektuelles Meisterstück. Trotzdem möchte ich ihn für den Moment so lassen, weil mich genau das, so wirr und widersprüchlich es sich liest, gerade beschäftigt. Schreiben ist meine Therapie. Wie der erste Schluck Wasser nach einer langen Wanderung, wie Obstsalat, wenn man sich vitaminleer fühlt, wie der erste Kuss im richtigen Moment, wie die warme Dusche nach einem Festival. Ich schreibe ganz anders, als ich lebe: Einfach drauflos und ohne zu wissen, was kommt. Ich wollte eigentlich einen Text über Fasching machen. Später, sagt der Clown, der neben mir am Frühstückstisch sitzt. Die Erzählstränge, die sich überschneiden, die Gedanken, die sich kreuzen - der Faden in meinem Kopf ist nicht rot, es ist auch kein Faden. Ich habe beim Schreiben das Gefühl, meine unterschiedlichen Persönlichkeiten träfen sich auf dem Papier, wechselten sich beim Schreiben ab, versöhnten sich. Während ich das schreibe denke ich, dass mein nächster Text über mein seltsames Ich sein wird. Eine Hommage an mein inneres Kind, vielleicht. Oder an Pocahontas. Weil der Text mehr als andere von Verwirrung strotzt, ein paar Dinge in Struktur, die ich eigentlich sagen möchte. Ich hoffe die nächsten Zeilen lesen sich nicht wie die ersten Seiten eines Selbsthilfebuchs für Young and Lost Individuals. Nicht, dass ich eins gelesen hätte.
Das Leben ist bunt.
Das Studium ist nur so deterministisch, wie man es zulässt zu sein.
Auch Akademiker*innen können den Traum haben, ein Cafe zu eröffnen.
Das Leben sollte ein unbegrenzter Raum der Möglichkeiten, nicht der Grenzen sein.
Es ist schön, im Regen zu tanzen.
Heute ist später und morgen ist später und übermorgen auch.
Es ist nicht nur okay, wenn es uns gut geht, es ist das einzig gesunde.
Stress ist ein Ausnahmezustand und keine Lebenseinstellung.
Wir sind da, um Liebe zu geben und zu empfangen, weil Liebe letztendlich alles ist, das bleibt.
Love and Peace.
Foto: Unsplash// Hanna Postova
Anni