Gestern war der längste Tag des Jahres, Sommersonnenwende, lachende Menschen mit verfärbten Muttermalen, das Ozonloch macht auch vor der deutschen Sphäre keine Ausnahme. Es ist Sommer, wir sind rot und blau, Horst, wo ist die Obergrenze, wenn man sie mal braucht? Deutschland schwitzt, titelt die BILD-Zeitung. Deutschland schwitzt, wie jedes Jahr. Auf der Titelseite, Kinder im Freibad mit Wassereis. Es ist zu heiß, um die schwitzenden Subsysteme zu thematisieren. Sommer scheint wie ein wochenlanger Feiertag und gleichzeitig eine gute Chance, um sich zu beschweren. Es ist zu heiß, zu schwül, schon wieder kein Regen, zu viel Regen, zu wechselhaft, die Kugel Eis wird auch immer teurer. Trotz fast 30 Grad zieht es die Menschen ins Ausland. Selbst solche, die ‚wohnen, wo andere Urlaub machen‘, es ist schön, nicht zu Hause zu sein, es ist diese Zeit des Jahres, die Zeit der chronisch-kollektiven Hausflucht, Deutschland macht Urlaub. Wenn ich an Deutsche im Urlaub denke, dann ziehen Strohhüte, Sangria-Eimer und Gesundheitssandalen an meinem geistigen Auge vorbei. Das ist so verallgemeinernd wie diskriminierend, nicht alle Menschen fliegen auf den Ballermann. Manche möchten tatsächlich rauskommen, aus Deutschland.
Ich wollte eigentlich einen Text über die Leistungsgesellschaft schreiben. Mein Bruder hat vergangene Woche sein Abiturzeugnis überreicht bekommen, ihm und seinen 125 Mitabiturienten gehört jetzt die Welt. Grenzenlose Freiheit wird von dem in der Gesellschaft verankerten Leistungsdruck in eine Freiheitsblase gedrückt, die unter der Schirmherrschaft von Produktivität steht. Ein zierlicher Junge mit Anzug und Krawatte grinst und sagt zu seinem stolzen Familienanhang, „was kostet die Welt.“ Oh, sie kostet, Jan Ferdinand. Aus aktuellem Anlass eine kurze Geschichte über Deutsche in Flugzeugen. Oder meine Wahrnehmung von Urlaubsflügen. Die mehr kosten könnten, sollten, müssten, aber im Urlaub kann sich das Gewissen schonmal schlafen legen. Das Flugzeug fliegt ja sowieso. Und dafür esse ich nur Bio-Fleisch und benutze Stofftaschen. Und Greta, die ist super.
Ich sitze am Flughafen in Barcelona. Ich bin wahnsinnig deutsch heute und bin viel zu früh. Sicher ist sicher, sagt mein Sicherheits-Ich, man weiß ja nie, wie lange es dauert, bei Sicherheitskontrollen. Und vielleicht ist Stau auf der Straße. Ich wünschte ich hätte mir ein Brot geschmiert, der Schokoriegel, den ich seit drei Tagen durch die Sonne trage, ist so geschmolzen, dass er überall klebt, nur nicht in meinem Mund. Ich bin 12 und nicht 23, wie ich auf dem Boden vor Gate C72 sitze und mit dem Schokoladenteint kämpfe. Weil ich zwei Stunden zu früh bin, habe ich Zeit die Menschen um mich herum zu beobachten. Flughäfen sind die Orte ehrlichster gesellschaftlicher Zusammenkunft, habe ich mal gehört. Oder gelesen. Oder empirisch festgestellt. Die meisten Menschen versetzt der Zustand des Verreisens und des Angewiesenseins auf eine Technik, die man nicht versteht und einen Menschen, den man nicht kennt, in Stress. Und dann noch die Angst vor dem verlorenen Koffer. Adrenalin und Dopamin leisten sich einen hormonellen Kampf. Und dann die ganzen Abschiede. Zwei Mädchen setzen sich auf die Stühle neben mich, sie reden französisch und fotografieren sich aus allen Winkeln. Mein Handy ist fast leer, ich versuche zu meditieren, dabei trommele ich auf meinen Beinen und bewege meinen Kopf zur Musik des Lebens. In diesem Moment hasse ich es, alleine zu reisen. „Stephan, komm“, eine schwitzende Frau winkt atemlos. Ihre rot-gefärbten Haare kleben an ihrer Stirn, instinktiv suchen auch meine Augen nach Stephan. „Stephan“, ruft sie wieder und tut mir dabei sehr leid. Wo bist du, Stephan? Die Mädchen lachen, unsere Blicke treffen sich so kurz, dass es nicht unangenehm ist, wegzusehen. Ich fahre mit der Zunge über meine Lippen und schmecke Schokolade. Hätte ich einen Travel-Buddy, dann wäre das nicht passiert. Du hast Schokolade am Mund, sage ich zu mir und nicke. Meistens fällt es mir leicht, mich mit mir selbst zu beschäftigen, heute ist es schwerer. Ich bin schlecht im Warten, dabei wartet man so viel, wir alle warten ständig; auf das Mittagessen, den Feierabend, eine neue Regierung, Weltfrieden. Ich denke an die Abschiedsrede von der Schulleiterin meines Bruders bei der Zeugnisverleihung. Neugier, wünscht sie den Abinauten, und den revolutionären Mut und die Gewissheit, etwas verändern zu können. Skeptizismus statt moralische Gemütlichkeit, denke ich. Ach Ghandi, be the change you want to see in the world ist eben doch keine Floskel. Ich hebe das Schokoladenriegelpapier vom Boden auf. Beim Warten verändert man nichts, gar nichts. Ich möchte meine Gedanken teilen, aber niemand ist hier, der Lust auf ein solches Gespräch zu haben scheint. Ob Stephan mittlerweile aufgetaucht ist? Ich hole mein Notizbuch heraus und versuche zu schreiben. Ich schreibe auf, was ich sehe, weil meine schwebenden Gedanken meiner Kreativität im Weg stehen. Noch nie etwas langweiligeres gelesen, als eine Beschreibung einer Abflughalle. Stephan kommt auch vor. Ich denke über Flugreisen nach, als ich die Menschen ansehe, die an mir vorbeilaufen. Säuglinge in Tragetaschen, Großeltern in Rollstühlen, Familien, Pärchen, Geschäftige und Beschäftigte, Fliegen ist das neue Autofahren, nur mit weniger Unfällen und mehr Kohlenstoffdioxid. Mein Flug wird zum Boarden aufgerufen, die Schlange vor dem Schalter ist schon seit zehn Minuten so lang, als würden die ersten 50 Passagiere etwas umsonst bekommen. Sicher ist sicher, das Flugzeug könnte ohne mich fliegen. Ich sag’s ja nur. Außerdem muss ich gleich noch so lange sitzen. Fliegen ist so anstrengend. Und immer die Klimaanlage. Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren ohne Musik zu hören. Meine Kopfhörer sind meine Sicherheitsblase, ich bin abgeschottet, ohne abgeschottet zu sein, mein kleiner Tarnumhang, ich höre euch trotzdem, haha, hoffentlich habe ich keine Schokolade mehr am Mund. Eine ältere Dame tippt mir auf die Schulter. Ihre Haare sind grau, das grelle Licht schmeichelt ihren gelben Eckzähnen, sie legt den Kopf schief. Wie lange ich in Barcelona gewesen bin will sie wissen, und aus welchem Grund, und mit wem. Ich beantworte ihre Fragen, sie ist dankbar, ich fühle mich schuldig. Während Greta mit dem Schiff nach New York zum Klimagipfel fahren will, fliege ich für nicht einmal 100 Stunden weg. Es ist mehr Zeitvertreib als Urlaub. Der Kerl neben mir war nur 24 Stunden hier, höre ich ihn sagen, während die Dame auf ihr Ipad hackt. Das ist wohl der Gipfel kapitalistischer Dekadenz. Der blonde Kerl und ich schauen uns an, er grinst, ich gucke grimmig. Hypokritin, sagt meine Moral. Niemand mag Hypokriten.
„Die Handgepäckstücke werden auch immer größer“, sagt Frau Wichtig, als ich mit meiner Sporttasche ihr Knie streife. Sie sagt es zu ihrem Mann, aber laut genug, damit ich mich schlecht fühle. „Entschuldigung“, sage ich laut. Der Flieger ist ausgebucht, ich gucke in müde Gesichter. Urlaub ist so anstrengend. „Darf ich kurz durch?“ Ich sitze am Fenster, Platz 31F, D und E sind schon belegt. „Da ist aber kein Ausgang“, sagt Herr Witzig, ich sage, dass ich in zwei Stunden dann aussteige und grinse. Mensch, Flugreisen sind so heiter. Menschen verstauen ihr Handgepäck, wir sind ein Haufen wuselnder Ameisen, die gerade mit Backpulver bestäubt wurden. „Jetzt setz dich doch einfach“, sagt Frau Stress und Herr Devot lässt sich auf den Fensterplatz hinter mir fallen. Die Frau von Herr Witzig klatscht in die Hände. „So, zwei Wochen auch wieder geschafft.“ Warum neigen wir dazu, alles als geschafft ansehen zu wollen? Warum möchten wir unterstützenden Zuspruch, gar Anerkennung, wenn wir einen Urlaub erfolgreich hinter uns gebracht haben? Herr Witzig nickt. „Das Essen kann jetzt auch kommen.“ Ich stecke meine Kopfhörer wieder in die Ohren und mache Musik an. Ihr applaudiert nach dem Flug, denke ich. Das habt ihr dann nämlich auch geschafft. Den Flug. Als hättet ihr selbst im Cockpit gesessen. Frau Witzig dreht nervös an dem Lüftungsknopf über mir. Ich sehe sie und Herr Witzig diskutieren und schließe die Augen.
„Zerwelatwurst oder Käse?“
„Was ist Zerwelatwurst?“
„Sowas wie Salami.“
„Dann Salami.“
„Salami haben wir nicht.“
„Käse mag ich nicht.“
„Mögen Sie Zerwelatwurst?“
„Was ist das?“
„So etwas ähnliches wie Salami.“
„Dann Salami.“
„Salami haben wir nicht.“
Herr Witzig hat seinen Namen indoktriniert, Frau Witzig schimpft über die Wurst oder das Leben, ich denke über Greta nach und übers Mutig sein. Ich fühle mich aktuell nicht sehr mutig und mehr verloren, als neugierig. Mehr gefangen, als revolutionär und mehr bequem, als tatkräftig. Ich schwebe in der Luft, mein Leben ist ein Flugreise, ich möchte endlich ankommen, schreibe ich in mein Notizbuch. Vielleicht ist auf dem Weg sein dein Ankommen, höre ich meinen Guru sagen. Wo warst du die letzten Wochen, Bruder? Eimersaufen, sagt er. Das muss auch mal sein. Ehepaar Witzig klatscht und freut sich. Es ist 21 Uhr, wir landen in Frankfurt. „Zu Hause ist es am schönsten“, sagt Frau Witzig. Es ist absurd, aber ich beneide die beiden, angekommen zu sein.
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