„Wir sind müde, wir kommen heute eher nicht mehr.“ Es ist kurz vor zehn. „Hab ich mir fast gedacht“, sagt meine beste Freundin und schenkt uns Wein nach. Wir sitzen auf ihrer Couch in einem Frankfurter Vorort, „dann gehen wir heute wohl alleine tanzen“, sage ich. Sie zuckt mit den Schultern. „Annaton ist immer müde“, sagt sie. Ich nicke, der Wein schmeckt süß, der Ventilator pustet die warme Sommerluft durchs Zimmer. Eine halbe Stunde später reden wir immernoch über Annaton, dem zu einer homogenen Masse verschmolzenen Pärchen, das zu müde ist, um anzurufen, um abzusagen. Ist Anton müde, oder ist Anna müde? Oder hat Anna keine Lust und die Diskussion über einen Samstagabend auf der Couch gewonnen? Oder will Anton weniger Alkohol trinken? Oder möchten die beiden ungestört am Nachwuchs arbeiten? Oder sind Annaton langsam zu alt, für Trinkspiele und Bahn verpassen, zu alt für Schwitzen in Clubs und Bier für vier Euro? „Shot für dich“, ruft meine Freundin, weil mir ein Würfel heruntergefallen ist, während ich über die Macht meines unsichtbaren Antons nachdenke. Ich bin auch müde. Aber ich habe niemanden, der mit mir müde ist. Und hätte ich diesen jemand, wären wir dann gemeinsam zu müde für Gemeinschaft? Die Oberfläche der Flüssigkeit im Eierbecher schimmert grün, von Pfefferminzschnaps bekommst du immer Kopfschmerzen, Schatz, höre ich Anton sagen, der ich selber bin. Wir alle sind Annaton, früher oder später. Sind wir? Der Würfel rollt schon wieder vom Tisch. Sieben Stunden später werde ich dort sitzen, wo der Würfel liegt, die Haarspitzen meiner Freundin in meinem Gesicht, wassertrinkend, nach Club riechend und lachend, weil das Leben zu schön ist für chronische Müdigkeit. Der Anton meiner Freundin heißt anders – und ist manchmal auch alleine müde.

Ein Text über Liebe und Abhängigkeit.

Jeder der schon einmal verliebt war, kennt es. Und wer es nicht kennt, war noch nie wirklich verliebt oder kann sich wahnsinnig gut abgrenzen, von der sich langsam einschleichenden Abhängigkeit. Wenn ich verliebt bin, dann läuft das meistens so: Person X, bei der es dieses Mal wirklich etwas ganz Besonderes ist, wird auf einen romantisch-verklärten Thron der Superlative gehoben, in meinem Kopf, aber auch in jeglichem Austausch mit meinem sozialen Wirkungskreis. Ich schwebe auf Wolke 700 und möchte bestenfalls jede freie Minute mit der Person verbringen, mit der ich mir vor dem Einschlafen die Namen unserer Kinder ausdenke. In meinem Kopf. Ich bin phantastisch verklärt, ich träume, ich mache mich emotional abhängig. Ich neige dazu, mein Glück auf Person X zu projizieren, weil sie mir punktuell das Gefühl gibt zu schweben, während ich den Großteil meines Lebens schwimme. Schwimmen ist so anstrengend, Anton. Anton hat immer eine Luftmatratze dabei, Anton ist eine Luftmatratze, mit Anton ist das Leben leicht. Bis die Luftmatratze an einem Dornenbusch hängenbleibt. Ich habe mich selbst schon oft dabei beobachtet, mein Leben so zu verwalten, dass Anton Platz hat. Mehr Platz als ich und mehr Platz als mein soziales Netz. Ich fahre für dich ans Ende der Welt, Anton. Wenn du müde bist, dann bin ich auch müde, Anton. Bin ich wirklich, weil wir so viel teilen, dass sich unser Biorythmus angleicht. Das ist wie mit Hunden und ihren Herrchen. Sehen sich irgendwie immer ähnlich, manchmal bewegen sie sich sogar gleich, man meint die selben Charakterzüge erkennen zu können, Menschen sind so einfach gestrickt. „Du übertreibst total“, sagt meine Freundin. „Du bist einfach extrem“. Ja, das stimmt. Aber trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Liebe und Abhängigkeit korrelieren. Verliebtsein hat viel mit Verklärtheit zu tun. Die Vorsilbe sollte uns alle aufhorchen lassen. Ver-loren, Ver-schwunden, Ver-boten, Ver-dorben, Ver-schoben, und verliebt. Es ist verkehrte Liebe, weil sie verklärt ist und weil es normal ist, dass die Synapsen nicht mehr richtig funktionieren. Anton, nimm mich mit auf deine Wolke. Meistens schaffe ich es nicht über jenes verklärte Stadium hinaus. Bevor ich mir selbst eine Luftmatratze kaufen konnte, platzt Antons – Anton schwimmt und ich ertrinke, erdrückt von dem Ruinen-Thron, der Antons Palast war. Dann denke ich an all die Zeit und Energie, die ich aufgewendet habe, um Anton sehen zu können, an all die verschobenen Verabredungen mit meinen Freundinnen, die schon sehr viele Antons überlebt haben und immernoch da sind. An all die Gedanken und negativen Gefühle, die natürlich aufkommen, weil Anton fremdgesteuert zu meinem personifiziertes Glück wurde. Armer Anton, der kann am wenigsten dafür. Und kriegt meistens am wenigsten davon mit. Alle Antons dieser Welt sind auch nur Menschen. Und Luftmatratzen kann man handelsüblich und selbstständig erwerben, man muss sich keinen Anton suchen, der Platz auf seiner macht, auf der Fahrt Richtung Dornenbusch.

Wie lang ist eigentlich für immer?

„Aber fühlst du dich abhängig von deinem Freund?“ Meine Freundin nickt. „Ich kenne das gar nicht von mir, aber ich vermisse ihn schon immer sehr, wenn wir uns länger nicht sehen.“ Ich bin unterschwellig beleidigt. „Ich vermisse dich auch, wenn wir uns länger nicht sehen“, sage ich. Ich höre sie denken „das ist etwas anderes“, sie sagt, „stimmt“. Wir trinken Kaffee. „Die Art von Abhängigkeit finde ich gar nicht so schlimm“, sage ich, während ich auf dem Kaffee-Keks herumkaue. „Wäre doch komisch, wenn du ihn nicht vermissen würdest.“ Sie nickt. „Ich bin froh, dass ich dich noch alleine zu Gesicht bekomme“, sage ich. „Ich glaube unsere Beziehung ist ein für immer, Chrissi. Was wäre das für ein Leben, wenn wir jede Minute teilen würden? Dann hätten wir uns doch gar nichts mehr zu erzählen. Wir haben noch ein ganzes Leben Zeit.“ Vielleicht sollte ich einen Ratgeber lesen: How to relationship, oder so ähnlich. Das klingt gesund, denke ich. So eine Beziehung möchte ich auch führen, denke ich. Anton, wo bist du, denke ich. Das ist Fehler Nummer eins, denkt meine Freundin. Auf der Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt findet man bestenfalls nach hunderten Dreiblättrigen und wahnsinnig viel zerstörtem Gras das Eine. Und dann? Laminieren und als Lesezeichen benutzen? „Aber glaubst du nicht, dass das automatisch passiert?“ Ich denke an eine Freundin, die unsere Verabredungen jedes Mal hektisch verlässt, wenn ihr Freund von der Arbeit kommt. Weil es gemütlich und gewohnt ist, gemeinsam Abendzuessen. Und weil es weniger gemütlich ist, alleine zu sein, wenn man chronisch zusammenhängt. „Man muss sich halt absprechen“, sagt sie. Ich nicke und möchte an meiner Gedankenradikalität arbeiten.

Absprache ist nicht Abhängigkeit.

Annatons sind Komfortzonen. Es ist schön, Annaton zu sein, wenn es auch noch Anna und Anton gibt. Sich in Beziehungen zu verlieren ist nicht Determinismus. Jede Bewegung braucht Unterbrechung, jede Luftmatratze sinkt, wenn man permanent zu zweit darauf liegt. Sich in Beziehungen zu verlieren mag aus Unsicherheit rühren, Partner X zu verlieren, oder aus Gemütlichkeit zwecks fehlenden eigenen Interessen. Individuelle Selbstbestimmung stirbt nicht, nur weil man mutig genug ist, eine Beziehung einzugehen. „Verliebtsein ist anders als Liebe“, sagt meine Freundin und schaut mich über ihre Sonnenbrillengläser hinweg an. „Liebe gibt Abhängigkeit einen wunderschönen Touch.“ „Und dann ist es keine Abhängigkeit mehr“, sage ich. Sie lacht. „Vielleicht schon, aber nicht mehr ungesund.“ Ich lecke den Schaum aus meiner Kaffeetasse und lege meinen Kopf schief. „Schon merkwürdig, die Liebe.“ Meine Freundin lacht. „Eigentlich gar nicht“, sagt sie. „Wie stehst du eigentlich zu Polygamie?“ Wir lachen beide. Es gibt so viel herauszufinden, in der Liebe. „Darüber sollten wir mal mit Annaton reden.“

Foto: Unsplash // tobias-tullius 

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